Heute möchte ich die zweite der versprochenen Buchbesprechungen online stellen, und zwar zu einem Werk, das ich besonders empfehlenswert finde:
Nicholas (auch: N.A.M.) Rodger: The Wooden World. An Anatomy
of the Georgian Navy. New York 1986, 445 Seiten, 15 Abbildungen. Verfügbarkeit:
Ganz gut, z.B. bei Amazon für € 22,67.
Nicholas Rodger (Jahrgang 1949) dürfte einer der
profiliertesten Experten für die Geschichte der Royal Navy, insbesondere im 18.
Jahrhundert, sein. Seine dreibändige Geschichte der Royal Navy vom
Frühmittelalter bis ins 20. Jahrhundert ist zum Standardwerk geworden, auch
wenn bislang nur die beiden ersten Bände erschienen sind (
The Safeguard of
the Sea,
The Command of the Ocean).
Der Titel
The Wooden World ist von einem älteren Werk
‚geborgt‘ : Edward Ward hat 1707 eine satirische Schrift über die Royal Navy
verfasst:
The Wooden World Dissected: In the Character of a Ship of War […].
Wer will, kann sie bei Google Books kostenlos lesen. Ward war ein Lästermaul,
das alles und jeden in England aufs Korn genommen hat, um seine Leserschaft gut
zu unterhalten. Rodger will es besser machen und die Royal Navy seriös und fair
‚sezieren‘ (to dissect). Das Adjektiv „Georgian“ im Untertitel ist eine
Epochenbezeichnung: In Großbritannien wird jene Zeit als „georgianisch“
bezeichnet, in der das Land von vier aufeinanderfolgenden Königen aus dem Haus
Hannover regiert wurde, die allesamt „Georg“ hießen – von 1714 bis 1837
nämlich. Rodger behandelt die Royal Navy in den Jahren zwischen 1730 und 1770,
wobei sein Fokus auf dem Siebenjährigen Krieg (1756-1763) liegt.
Ich stelle hier Werke vor, die sich der Sozialgeschichte der
Seefahrt widmen, weniger der Technikgeschichte oder derjenigen von Schlachten
und militärischen Kampagnen. Dementsprechend geht auch Rodger weniger auf
Schiffe und Gefechte ein, als auf die Männer an Bord. Verglichen mit meiner
ersten Buchvorstellung,
Jack Tar von Roy und Leslie Adkins, handelt es
sich bei
The Wooden World um ein Buch, das stärker auf ein Fachpublikum
zielt und akademischen Standards entspricht. Gut und anschaulich geschrieben
ist
The Wooden World dennoch – auch Nicht-Historiker*innen können es mit
Gewinn lesen, glaube ich.
Den Unterschied in der Konzeption der Bücher von
Adkins/Adkins und Rodger kann man schon an den Inhaltsverzeichnissen ablesen. So
heißt Kapitel 2 bei Adkins/Adkins schlicht „Pressed“. Mehr erfährt der Leser an
dieser Stelle nicht über den Inhalt. Das thematisch entsprechende Kapitel 5 bei
Rodger trägt den Titel „Manning“, und ist in folgende Abschnitte aufgeteilt: A
The Problem, B Volunteers, C Impressment, D Competition, E Straggling and
Desertion. Mit anderen Worten: The
Wooden World ist systematischer
aufgebaut als
Jack Tar.
Rodgers Buch umfasst acht Kapitel und einen recht
umfangreichen Anhang. Ich nenne hier alle Kapitel und Unterkapitel, weil sie
einen guten Eindruck von dem vermitteln, was Leser*innen erwartet: Kapitel 1
The
Sea Service hat die Unterkapitel „Afloat“ und „Ashore“. Kapitel 2
Shipboard
Life behandelt „Work and Play“, „The Dangers of the Sea“, „The Violence of
the Enemy“, „Hardships and Comforts“, „Children and Animals“, „Drink“ sowie
„Sweethearts and Wives“. Kapitel 3
Victualling and Health behandelt
„Food“, „Pursery“, Sickness and Health“, „Cleanliness“ und „Hospitals“. Kapitel
4
Ratings‘ Careers (Ratings = einfache Seeleute) hat die Unterkapitel
„Joining the Navy“, „Followings and Advancement“, „Pay and Credit“ und „Leave“
(Landurlaub). Die Unterkapitel von Kapitel 5 habe ich oben bereits aufgeführt. Kapitel
6
Discipline behandelt „Obedience and Command“, „Violence and Humanity“,
„Crime and Punishment“, „Complaint and Consultation“, „Mutiny“ und „Courage and
Morale“, Kapitel 7
Officers „A Career at Sea“, „Patronage and
Promotion“, „Authority“ und „Duty“. Kapitel 8
Politics hat nur zwei
Unterkapitel: „The Navy in Politics“ und „Politics in the Navy“.
Rodgers möchte mit seinem Buch ein Klischeebild von der
Royal Navy als einer Organisation widerlegen, in der vermeintlich tyrannische
Kapitäne (man denke an den William Bligh der Hollywood-Filme) mit nackter
Grausamkeit (die Neunschwänzige Peitsche!) über rechtlose Matrosen geherrscht
hätten. In der Einleitung bemerkt er, wenn die Schiffe der Navy „schwimmenden
Konzentrationslagern“ geglichen hätten, wäre kaum zu erklären, warum sie in den
Seekriegen des 18. Jahrhunderts so erfolgreich sein konnten. Dementsprechend
liegt Rodgers Augenmerk darauf zu zeigen, dass Navy-Kapitäne nicht einfach nur
‚durchregieren‘ konnten und wollten.
Zum einen weist er darauf hin, dass die Disziplin in der Marine des 18.Jahrhunderts
nicht den Maßstäben moderner Militärs entsprach. „In the eyes of a modern officer, thediscipline of the mid-eighteenth-century Navy would appear lax to the point of
anarchy“, bemerkt Rodger. Die Offiziere des 18. Jahrhunderts hätten das
ganz gut tolerieren können, weil sie noch an die grundsätzliche Stabilität der
gesellschaftlichen Ordnung geglaubt hätten – ein Vertrauen, das ihren
Nachfolgern angesichts der Französischen Revolution verloren gegangen sei. Zum
anderen ist es Rodger wichtig zu zeigen, dass Ordnung an Bord auch dadurch
gewährleistet wurde, dass Kapitäne ihre Untergebenen human behandelten,
ihre Beschwerden ernst nahmen, sich bei der Admiralität für sie einsetzten,
sie förderten und bei kleineren Vergehen auch mal ein Auge zudrückten.
Das letztgenannte Prinzip zeigt er am Beispiel von „straddlers“ auf. So nannte man
Seeleute, die ihren Landurlaub überzogen. Rodgers zeigt, dass Matrosen nicht selten
Wochen später wieder an Bord kamen, als sie es eigentlich hätten tun müssen –
und dennoch mit geringen Strafen (in der Liga von: eine Woche Rumentzug) davonkamen.
The Wooden World hat mir nicht zuletzt deswegen eine
Reihe von Aha-Effekten beschert, weil Rodger das Bild von der eisernen
Disziplin und der vermeintlichen Allmacht der Kapitäne hinterfragt.
Press-Kommandos der Navy konnten in Kriegszeiten in Hafenstädten nach Belieben
Männer aufgreifen, die wie Seeleute aussahen? Das Buch entwirft ein anderes
Bild: Press-Kommandos waren bei Bürgermeistern und Stadträten generell eher
ungern gesehen – weil sie den ortsansässigen Reedern die Seeleute wegschnappten,
aber auch, weil sie auf Geheiß des Königs handelten. Vom König aber ließ man
sich in Plymouth, Bristol oder Hull ungern in die lokalen Verhältnisse
hineinregieren. Und so reagierte die Obrigkeit vor Ort nicht selten nur mit
einem Schulterzucken, wenn Angehörige eines Press-Kommandos zusammengeschlagen
worden waren. Wurden Offiziere, die solche Kommandos anführten, von Männern
verklagt, die sich zu Unrecht aufgegriffen fühlten, durften sie nicht mit der
Hilfe der lokalen Autoritäten rechnen. Wer aus der Navy desertierte, musste damit rechnen, an der
Rahnock aufgeknüpft oder wenigstens durch die Flotte gepeitscht zu werden? Die
Kriegsartikel (hier in der Fassung von 1757) legen dies nahe: „Every person in or
belonging to the fleet, who shall desert or enticeothers so to do, shall suffer death, or such other punishment as the
circumstances of the offense shall deserve, and a court martial shall judge
fit“. Rodgers hat Desertionsfälle in seinem Untersuchungszeitraum ausgewertet
und kommt zu einem ganz anderen Bild: Von rund 36.000 Fällen wurden nur 254
vor ein Kriegsgericht gebracht. Von diesen wurden zwar 53 zum Tode verurteilt,
aber nur rund ein Dutzend tatsächlich hingerichtet. Desertion, so scheint es,
war in der Royal Navy Mitte des 18. Jahrhunderts ein kalkulierbares Risiko.
The Wooden World bietet bei zahlreichen Aspekten der Royal Navy als Lebenswelt tiefe und
auch überraschende Einsichten. Für thematisch Interessierte meines Erachtens
unbedingt lesenswert!