Ende letzten Jahres machte ein Forumskollege mich auf ein Angebot im eBay aufmerksam, von dem er – zu Recht – annahm, es könnte in mein Beuteschema passen. Bei dem Plastik-Bausatz, der dort angeboten wurde, handelte es sich um den einer Schebecke im Maßstab 1:75. Nun habe ich schon die Schebecke von Heller gebaut und habe die von IMAI in Arbeit, Grund genug, mein Interesse zu wecken. Anfangs nahm ich an, es handele sich um ein Re-Boxing des Modells von IMAI; das ist zwar im Maßstab 1:80 gehalten, aber man weiß ja, was man von den Maßstab-Angaben der Hersteller zu halten hat. Die dem Angebot im Netz beigestellten Fotos ließen es glücklicherweise zu, die beiden Modelle rasch genauer miteinander zu vergleichen, und so konnte ich feststellen, dass es sich NICHT um eine Neuauflage des IMAI Modells handelte. Also machte ich mich ans Recherchieren – doch ohne Erfolg. Wenig hilfreich war dabei übrigens, dass ich den Namen der Herstellerfirma, der auf dem Schachteldeckel in einer schwungvollen Handschrift aufgedruckt ist, nicht genau identifizieren konnte. Und unter dem Namen des Vertreibers war nichts zu finden.
Ich muss zugeben, meine Recherche dauerte nur – äh – wenige Minuten. Danach war ich überzeugt, hier ein wirklich seltenes Exemplar aus der Geschichte des Plastikmodellbaus vor mir zu haben. Ich wählte, ach, es ist ja so einfach, die sofort-kaufen-Option, obwohl ich am Rande meines Bewusstseins wahrgenommen hatte, dass das Modell über das amerikanische eBay vom Standort Wladiwostok aus angeboten wurde. Das hieß, zu dem stolzen Preis und den Versandkosten kämen noch Umsatzsteuer und Zoll. Aber bekanntlich soll man ja auf dem Sterbebett nicht bereuen, was man getan, sondern was man nicht getan hat.
Weniger als eine Woche später hatte das Modell den gesamten asiatischen Kontinent und ein gutes Stück Europas überwunden und wurde mir von einem merkwürdig teilnahmslosen Postboten in meine zitternden Hände gelegt. Inzwischen hatte ich herausgefunden, worum es sich hier handelte. Ich fasse das kurz: ein Franzose namens Pierre Brifaut, im Zweiten Weltkrieg Flieger, hatte sich nach seinem Ausscheiden aus der Luftwaffe auf die Produktion von Plastikmodellen verlegt, die er selbst konstruierte und in einem kleinen Städtchen im Jura produzieren ließ, damals ein Zentrum der französischen Spielwarenindustrie. Monsieur Brifaut war ein glühender Patriot, seine Modelle sollten alle die große Rolle Frankreichs in der Geschichte der Technik illustrieren. Leider ist es nie auch nur annähernd dazu gekommen, dass die Firma Brifaut, wie geplant, ein Museum französischer Ingenieurskunst im kleinen Maßstab anbieten konnte. Von Ende der fünfziger Jahre bis Mitte der sechziger erschienen nicht mehr als zwei Dutzend Modelle von Flugzeugen und Schiffen; Brifaut soll ein rastloser und technisch sehr begabter Mensch gewesen sein, ein Kaufmann und Organisator war er sicher nicht. Ich habe inzwischen mit seiner Tochter sprechen können, die in Deutschland lebt. Sie sagte mir, wenn ein Modell fertig gewesen sei, habe sich der Vater kaum noch dafür interessiert, wie es an die Leute zu bringen sei. Dafür wuchsen ihm andere Probleme über den Kopf, etwa ein Rechtsstreit mit der Reederei des Passagierschiffs France, zu dem er Bausätze in verschiedenen Maßstäben anbot. Ich habe inzwischen eine France in 1:900 erwerben können, sauber zusammengebaut, in einer etwas improvisierten Vitrine, wie sie vermutlich Anfang der sechziger Jahre von Passagieren des Schiffes an Bord als Souvenir erworben werden konnte.
Und damit zurück zur Schebecke. Sie stammt nach allem, was ich bis jetzt in Erfahrung bringen konnte, aus dem Jahr 1966; sie war das letzte oder vorletzte Modell, das die Firma Brifaut auf den Markt brachte. Ganz offenkundig ist sie dem Modell aus dem Pariser Marinemuseum nachgeahmt, ebenso wie später die Modelle von Heller (um 1975) und IMAI (um 1980). Mit anderen Worten, sie ist zwei Jahre älter als das erste Heller Modell, das auf Vorbildern bzw. Plänen aus dem Marinemuseum gründete, die Phenix von 1968. Man hat es also bei der Schebecke von Brifaut mit einem echten Pionier im Bereich der Plastikmodelle von Segelschiffen zu tun, die mit dem Anspruch historischer Korrektheit erschienen.
Über den Bausatz sagen Fotos mehr als Worte. Über die Passgenauigkeit vermag ich wenig zu sagen, werde womöglich sogar nie etwas sagen können, weil ich befürchte, dass ich mich nie trauen werde, die Teile zu verbauen. Nur so viel: Manche Teile, vor allem der Rumpf, haben einen gewissen Charme, der daher rührt, dass sie nicht so glatt und exakt graviert sind. Ich meine das ganz positiv! Bei entsprechender Farbgebung müsste man meines Erachtens ein Modell hinbekommen, das sehr individuell und eher wie ein Holzmodell wirkt. Andererseits sieht man zumindest auf den zweiten Blick, dass einige Bereiche nicht ganz durchkonstruiert sind; so fehlen zum Beispiel die Posaunenengel am hinteren Rumpf und das Ornament auf dem Ruderkopf.
Und nun die Fotos
Abschließend ein Nahvergleich zwischen der Schebecke von IMAI (bemalt) und der von Brifaut (unbemalt). Da schneidet die doppelte Französin nicht so schlecht ab.
Schmidt